Michael G. Fritz

Vor dem Winter


Michael G. Fritz
Vor dem Winter
Erzählungen
2. Auflage
194 S., geb. mit SchU
Verlag Neues Leben Berlin 1987
ISBN 3-355-00350-6

Cover Vor dem Winter

Leseprobe


In diesem Augenblick

Obwohl es Tag ist, sehe ich die Leuchtkugeln. Sie blitzen kurz auf und sinken hinunter, und jedesmal geben sie dabei ein zischendes Geräusch ab. Ich stehe am Fenster und verfolge das Geschehen.
In meiner Straße herrscht lebhaftes Treiben, und auf dem Stück Wiese neben der Schule spielen Kinder Fußball. Eine Trillerpfeife ertönt, doch an der Entschiedenheit, mit der der Ton herüberkommt, merke ich, daß er nichts mit dem Fußballspiel zu tun hat. Etwas muß geschehen sein, vielleicht dort, wo die Leuchtkugeln emporsteigen und wo sich Kasernen aneinanderreihen, auf den Hügeln hinter den Bäumen. Die Töne kommen in kurzen Abständen, schrill und rhythmisch dringen sie durch die Straßen und lassen alle Geschäftigkeit erstarren, als ich mich daran zu gewöhnen beginne, bricht ein Ton unvermittelt ab. Und dann ist es still.
Drüben neben der Schule ist der Ball über einen Zaun geflogen, und jemand ist ihm nachgestiegen. Die Kinder warten. In diesem Augenblick fliegt kein Vogel am Fenster vorbei. Überhaupt geschieht nichts. Kein Fußgänger schlendert unten auf der Straße entlang. Kein Blatt fällt zu Boden. Mir ist, als hätte ich alles schon einmal erlebt, obgleich mir einfällt, daß ich es nicht erlebt haben kann. Und doch, denke ich, so, genauso wird der Krieg beginnen.