La vita è bella – Miniaturen aus Venedig
Michael G. Fritz
La vita è bella – Miniaturen aus Venedig
112 S., geb. mit SchU
Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2010
ISBN 978-3-89812-700-4
Preis: 16,00 €
Leseprobe
DAS GURREN DER TAUBEN klingt wie das Hecheln der Paare bei der Liebe, schamlos zieht's über Höfe und durch lichtlose Gassen zwischen den Palazzi. Die Singvögel hat man an der Stange festgebunden oder in Käfige gesperrt, sie geben das ihre dazu. Von allerorten dröhnt Baulärm, der nicht mal während der Siesta verebbt. Das Tuckern der Lastkähne, Motorboote und Vaporetti hallt heran und die Stimmen des schmucken Personals, das die nächste Haltestelle ausruft: Prossima Fermata San Tomà – ein vielstimmiger Chor, in den das Schreien eines Kindes einfällt, das wie ein Stich ins Herz ist und mich fortzieht, fort, zurück nach Deutschland?
So ohne weiteres werd ich nicht meine sieben Sachen packen, finde Vorwände zuhauf, um zu bleiben, restare, fällt mir ein, heißt's in der Landessprache, ich beginne schon fleißig zu konjugieren. Wo hab ich es auszusprechen? Ob sie mich jemals wieder rauslassen, wenn ich heimgekehrt bin, der Reisepaß ist schnell eingezogen, das Visum verweigert. – Einen Atemzug später lache ich über mich: Ach immer dasselbe mit dir, die Mauer schleppst du überall mit herum, du wirst sie wohl nie mehr los.
AN DER PUNTA DELLA DOGANA GLEITE ich mitsamt der Kleider in den nächtlichen Canal Grande, um zu meinem Palazzo zu schwimmen, schließlich fährt kein Vaporetto mehr. Sind die Kanäle hierorts nicht immer die kürzesten aller Wege? Das Wasser ist weich wie Seide und erstaunlich warm, Fische berühren mich mit stumpfem Maul, mit Flossenschlag, ich merk's, sie nehmen mich auf in ihr Reich. Nur weiß ich bald nicht mehr, wo ich bin. Lord Byron fand sich zurecht durchs Licht der Kerzen, die er auf einem Brett vor sich herschob; ich kann mich bei den Meerjungfrauen erkundigen, die mir im Schwarm begegnen. Aber sie verlangen was dafür, eine Gegenleistung? Ich taste meine Jackettaschen ab und biete getrocknete Aprikosen.
Aprikosen? sagen sie und lachen, was ist das für eine Währung? Ich zucke mit den Schultern, was anderes hab ich nicht dabei, erwidere ich.
Nichts anderes, wiederholen Sie und schütten sich aus vor Lachen, streichen ihr langes grünschimmerndes Haar zurück und planschen auf dem Rücken, so daß bis zur Hüfte ihre Rundungen erkennbar werden, jede einzelne, und jede zeigt sich in
andrer Pracht, bis unvermittelt der Fischleib beginnt. Wir könnten uns einiges vorstellen, flöten sie und beginnen zu singen, bewegen sich rhythmisch, kann man das Tanz nennen, was für ein Tanz?
Wie denn, sage ich, alle kann ich doch nicht erlösen, und setze meinen Weg fort, unsicher, in welchen Kanal, in diesen oder den nächsten, rechts oder links ich einbiegen soll, und lasse meine maulenden Begleiterinnen zurück. Die Palazzi liegen im Dunklen, manchmal bricht aus Fenstern ein müder Glanz, ich rufe hinüber, und noch einmal, Scusi, rufe ich, Entschuldigung, aber ich höre nur meine eigene Stimme, die zu mir zurückkommt. Scusi, bin ich richtig hier? Planlos suche ich das Wasserlabyrinth ab, bis ich irgendwo versuche auszusteigen, rutsche an glitschigen Stegen, Steinen, Planken ab, versuche es wieder und wieder – stets ist das Ergebnis gleich, als würde mich das Ufer nicht mehr annehmen. Kaum daß mich die Möwe – ein stattliches Exemplar – bemerkt hat, schwebt sie elegant auf mich nieder und gräbt ihre Krallen in meine Kopfhaut, sie pickt nur wenig an mir herum, wie sie es tun, wenn sie einen Pfahl besetzt haben. Um den Vogel nicht zu enttäuschen, verharre ich in immer derselben Stellung, und so schlimm ist es gar nicht.
DAS GESCHÄFT HAT am Abend den wochenlang geschlossenen Rolladen hochgezogen, wie das Plakat versprach, und die Anlage aufgebaut, die Musik kommt ohne Text, den kann man vom Bildschirm ablesen. Jemand greift sich das Mikrophon und sofort geht's los: Keiner, der stumm bliebe dabei, sie alle sind in Bewegung, tanzen und hängen zusammen. Wenn einer den Kopf, den Körper neigt, muß es der andere auch, wie eine Woge, zu der ich unbedingt dazugehöre. Bin ich nicht schon immer hier gewesen und einer von ihnen oder von mir aus nach langer Reise zurückgekehrt? Leuchten nicht längst meine Augen wie ihre? Links, rechts von mir spüre ich ihre Leiber, die jeder Ton durchzuckt. Die Stimmen schwellen an bei Sei bellissima, sie geraten außer Rand und Band bei Vacanza, werden geheimnisvoll bei Maledetta Primavera, aber sie singen, als gebe es nicht den geringsten Grund, daran zu zweifeln La vita è bella, die hundert und mehr Kehlen fallen ins Crescendo – und ich bin gar nicht überrascht, daß ich plötzlich den Text kenne. Ich verstehe jedes einzelne Wort vorn auf dem Bildschirm, es ist schließlich meine Sprache, während die Stimmen immer noch La vita è bella beschwören mit gewaltigem Atem – ich muß mich an meinem Plastikbecher mit Rotwein festhalten, daß ich nicht aus ihrer Mitte fortgeblasen werde.
WIE AUF EINEM FAMILIENFOTO: DER ÄLTERE JUNGE darf den Kahn führen, den Oberkörper sehr aufrecht, umklammert die nach hinten langende Hand das Ruder. Der Vater hatte nachgegeben, aber darauf bestanden, neben ihm zu sitzen. Er dirigiert mit unhörbaren Worten. Die Mutter, die ein weites Kleid trägt, das die Knie bedeckt, hält ihren Arm um den jüngeren Bruder, der sich nicht um den Großen schert, er könnte so oft er wollte seinen Wunsch anmelden und würde trotzdem nicht den Kahn lenken dürfen, zumindest in diesem Jahr noch nicht: durch die Kanäle hindurch in die Lagune und weiter, weiter zu ihrer Insel, von denen es hundert und mehr gibt. Den Weg kennt er genauso gut wie sein Bruder, mit geschlossenen Augen würde er den finden, va bene. Was soll's, er schaut lieber herüber zu dem Fremden, der sie beobachtet, als seien sie etwas Besonderes in Vaters Baukahn, der, zugegeben, lange nicht saubergemacht worden ist. Der Mann dort in seinen schwarzen Sachen, die er trotz der Hitze trägt, sogar ein Jackett, kramt nach einem Stift und macht sich in seinem Heft ganz ungeniert Notizen. Was schreibt er, schreibt er über uns, was? Der Mann ist zum Lachen komisch: Wie er dasteht, so gespannt, als dürfe ihm nichts entgehen. Haben wir nicht Ferien, in den Ferien wird nicht geschrieben, kein Wort. Aber der Mann ist nicht von hier, merkt man sofort.
Aus den Augenwinkeln widmet sich der Junge nun dem Bruder, mit seinen streng nach hinten gekämmten Haaren, in die vorhin etwas Gel kommen mußte wie jeden Tag in letzter Zeit. Sein Blick ist starr nach vorn gerichtet, nach vorn, wo die im Sonnenglast liegende Luft blau schimmert. Abrupt, kurz vor der Brücke, biegt der Kahn nach links ab und hinterläßt unter
Abgasgewölk eine aufgewühlte Oberfläche. Gleich danach ist
nichts mehr zu sehen.
Rezensionen
Wenn die deutsche Gegenwartsliteratur noch Entdeckungen zu machen hat, dann steht der Dresdener Autor Michael g. Fritz auf der Liste ganz oben. Kontinuierlich legt er ein Buch nach dem anderen vor, unaufgeregt und vielleicht sogar zu leise für den immer lauter werdenden, auf Verkäuflichkeit getrimmten Buchmarkt. … Bisweilen hat man den Eindruck, zwischen ihm und der Stadt steht eine Wand voller Bücher, die von der Stadt handeln, so wie jemand auch eine Postkarte schreibt, um zu beweisen, dass er fort gewesen ist. Diese Irritationen sind es, diese subtilen Brechungen der Perspektive, die beharrlich gegen das Glück gestellt sind und damit auch dem Titel des Bandes widersprechen. Allenfalls in Tagträumen, die sich wie Folien über die Wirklichkeit schieben, kommt das Begehren zu sich selbst und scheint – auch sprachlich – gebändigt. Aber da sind wir schon weit an einer Poetisierung des Geschehens beteiligt, die das Bild symbolisch auflädt und zur Metapher erweitert. Passend zu dem Verfahren, die Bezugsebenen des Erzählens ineinanderzuschieben und das Reale an das Imaginäre zu binden, ist das unvermittelte Auftauchen und Verschwinden von Figuren, Stimmen, Dialogfetzen, fast ohne Kontext und semantische Haftung. Auf diesem schwankenden Boden einer signifikanten Unzuverlässigkeit entgeht auch das Banale seiner Banalität. .. Das Thema hinter dem Sujet, die Erregung der Texte: ich, der andere, der immer etwas fremd bleiben wird, weil er die Welt der Zeichen noch zu erobern hat, die nicht zur Welt der Vergangenheit passen. Zwanzig Jahre sind vergangen nach jenem "Sturz der Zeichen", der ein ganzes kulturelles System desavouiert hat. Aber etwas von jenem Charme einer Störung, wie wir ihn in Melvilles ‚Bartleby' finden, schenkt uns der Erzähler hier auch.
… Alle diese Klischees werden bedient und entstanden ist ein hinreißendes Buch! Hinreißend in doppeltem Sinn: alles ist in Bewegung, die Marmorfiguren verlassen ihre Sockel und treffen sich im Park zur Liebe. Verführerische Frauen bringen Häuser in Bewegung; und wenn es sein muß, tanzen sämtliche Steine der Stadt. … Und hinreißend in dem Sinne, dass er sich der Verlockung nicht entziehen kann. Das Buch besteht aus sprachlich sorgfältigen, stilistisch unterschiedlichen Miniaturen, deren umfangreichste zweieinhalb Seiten lang ist. Werden sie in der Reihenfolge, in der sie angeordnet sind, gelesen, und das sollte man unbedingt tun, ergeben sich Wellenbewegungen: Sie verlieren sich nicht im Ungefähren, sondern bewegen sich auf ein Ziel zu.
Fritz legt eine literarisch überzeugende Miniaturie vor, die Grenzüberschreiter fesselt und angenehm entführt in Tagtraumwelten, sinnlich und lichtvoll.
Diese Miniaturen sind eine Liebeserklärung an Venedig und an das Leben. Das Bändchen ist ein Buch für literarische Gourmets und es ist ein wunderbares Geschenk.
Es gibt Sehnsuchtsorte auf der Welt, mit denen jeder etwas verbindet, selbst wenn er noch nie dort gewesen ist. Venedig gehört dazu. Man kann sich hineinfallen lassen – mit den Augen, mit der Sprache, mit allen Sinnen. In der Literaturgeschichte gibt es viele Vor-Prägungen zur Lagunenstadt, da muß einem heute schon etwas ganz Besonderes einfallen. Gerade dies gelingt Michael G. Fritz mit "La vita è bella". … Die Sprache des Erzählers Michael G. Fritz wird an den schönsten Stellen beinahe lyrisch, sie wiegt sich wie das Wasser der Lagune selbst, folgt dem Auf und Ab im vibrierenden Rhythmus der Kanäle, Brücken, Inseln, der Palazzi und Torbögen, Cafés und Bars.
Michael G. Fritz gilt spätestens seit "Die Rivalen" als Geheimtipp unter den deutschen Erzählern. Seine Stärken sind sprachliche Präzision, intelligent verknüpfte Erzählstrukturen und dichte, pointierte Stoffe.
Michael G. Fritz ist mit "La vita è bella" ein wunderschönes, sprachlich sehr elegantes Buch über Venedig gelungen. Er weiß, wie man Liebeserklärungen formuliert und versteht es, seinem Staunen und Wundern in fein ziselierten Wortminiaturen Ausdruck zu verleihen. Entstanden ist eine Eloge auf Venedig, in der viele Erinnerungen an eine zauberhafte Gefährtin aufgehoben sind, die ihm Partnerin bleiben wird. Liest man seine Miniaturen, dann ist man in Venedig.
Es verblüfft immer wieder, wie es dem Autor gelingt, ein Beobachter jenseits des touristischen Blicks zu sein. Die hier versammelten Miniaturen sind eine Liebeserklärung an Venedig und an das Leben – mit immer wieder überraschenden Pointen.
Doch auch in Venedig kann Fritz das große sozialistische Reich, das 1989 mit seiner kleinen deutschen Variante endgültig unterging, nicht vergessen. In einem Schreckmoment fürchtet er Reisepaß-Entzug, Visum-Verweigerung: "Einen Atemzug später lache ich über mich: Ach, immer dasselbe mit dir, die Mauer schleppst du überall mit herum, du wirst sie wohl nie mehr los. Das Leben ist schön – aber es enthält auch dunkle Augenblicke.