Michael G. Fritz

Die Rivalen


Michael G. Fritz
Die Rivalen
Roman
2. Auflage
160 S., geb. mit SchU
Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2006
ISBN 978-3-89812-438-6
Preis: 16,95 €
ET: Juli 2012

Cover Die Rivalen

Leseprobe


Bevor die Besucher ins Freie strömten, war ich schnurstracks nach Hause gefahren. Ich legte mich ins Bett, nicht ohne mich von oben bis unten zuvor ausgiebig zu waschen, und zwar mit meiner Seife. Eines Tages wird der Vorrat aufgebraucht sein. Bekommt man noch irgendwo Schönheitsseife der Marke Lilienmilch zu kaufen? Ich werde meine Fühler ausstrecken. Alle halbe Stunde machte ich Licht und schaute auf die Uhr; zwischendurch tappte meine Hand ins Bett neben mir, als hätte ich geschlafen und sei Karola währenddessen gekommen. Ich wunderte mich, dass sie überhaupt zurückfand, gegen vier. Schon gegen vier, dachte ich wirklich erstaunt. Ich hatte meine Felle davonschwimmen gesehen und mit ihr in dieser Nacht gar nicht mehr gerechnet. Karola schlich sich ins Dunkel und ergab sich sofort einem schweren Schnarchen, das die Luft deutlich vibrieren ließ, noch bevor ich die ersten Worte an sie richten konnte. Ich tippte sie an die Schulter – wie lange hatte ich meine Frau nicht berührt, lachte sogleich über mich und das besitzanzeigende Fürwort, ich beließ meine Hand auf dem dünnen Stoff, der sich über ihre Haut spannte. Sie roch nach Qualm, Bier oder Wein, jedenfalls grandios nach Alkohol. Anschließend waren sie natürlich in einer Kneipe gewesen, um den Abend gebührend zu feiern. Es scheint nach solchen Veranstaltungen Usus zu sein, Karola wird neben ihm gesessen haben, neben meinem Blutsbruder, um mit ihm die seit langem geplante Lesung auszuwerten. Gewiss wird sie, dachte ich, nach der Kneipe in großer Runde, mit ihm noch woanders gewesen sein, vielleicht, mach dir nichts vor, vielleicht bei ihm. Eine Muse, wie ich vom Chef des Literaturhauses hörte, hatte Wilhelm zum Schreiben des Romans angeregt, die Spatzen pfiffen es von den Dächern. Nicht die junge Frau an seiner Seite vor den Auslagen, die ich nicht auf seiner Lesung gesehen hatte, Karola war's, klar Karola – was sie nicht alles über Literatur wusste.

Ich hatte ihn wiedergesehen, ich war sicher, daß ich ihn wiedergesehen hatte, auf der Friedrichstraße im Feierabendgedränge. Er stand mit einer jungen Frau vor dem Schaufenster eines dieser im Neonlicht strahlenden Verkaufspaläste von blinkendem Glas und Metall, von Sandstein, der so neu war, daß er noch keine Patina angesetzt hatte. Im dichten Regen, der schon nach Herbst roch, drängte wer nicht unbedingt weitermußte unter das schmale Dach. Ich tat, als musterte ich die Auslagen und studierte die Preisschilder, ohne die Beträge zu begreifen. Möglichst unauffällig schaute ich in seine Richtung, ich hatte mich nicht getäuscht: Wenige Meter neben mir unterhielt er sich mit der Frau an seinem Arm, die auf die ausgelegten Stücke deutete, was er jedesmal mit einem kehligen, tiefen Auflachen quittierte, das ansteckend wirkte. Hatte er damals schon so gelacht?
Er ist also wieder hier, aber vielleicht nur zu Besuch, als Tourist, versuchte ich meinem Gedanken, der wie eine Klingel in mir schellte, die hohen, spitzen Töne zu nehmen. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, daß man jemals als Tourist in den Ort zurückkehren kann, in dem man gelebt hat; man bleibt in ihm immer zu Hause, egal wohin es einen verschlägt, oder? Ich war nach dem Tod meiner Eltern vom Vorort in die Stadt gezogen, hinein nach Berlin. Das große Haus, mein Vaterhaus zu verkaufen, brachte ich nicht über mich, ich vermietete es an eine befreundete Familie, zu der mehrere Generationen gehörten, mit unüberschaubarer Mitgliederzahl.
Ich hätte ihn immer wiedererkannt, auch wenn ich mich nicht mehr an sein Lachen erinnerte. Nicht, daß er dick geworden wäre, er hatte zugesetzt, das Jackett spannte kräftig am Bauch, und die Haare waren dünn geworden. Davon bleibt man nicht verschont, wenn man sich in den Endvierzigern befindet – nicht mal Wilhelm. Er hatte nur Augen für die junge Frau an seinem Arm, deren Ohrringe, große an einer langen Kette hängende, in Silber gefaßte Perlen, ständig hin und her schaukelten. Sie war unverschämt jung, und ich mutmaßte nicht, daß sie seine Tochter gewesen war. So sieht kein Vater seine Tochter an. Sie trug Schwarz, Kleid, Strümpfe, die hochhackigen Schuhe – all das schwarz Schimmernde gab ihr eine nicht alltägliche Eleganz. Ob sie unterwegs zum Theater waren, vom Hotel zum Theater? Hatte Wilhelm nicht irgend etwas mit Büchern zu tun? Es paßte zu ihm, daß er hergekommen war, um die neuesten Inszenierungen kennenzulernen. Reisebüros überall in Deutschland warteten mit diesem Angebot auf: für ein paar hundert Euro ein verlängertes Wochenende zum Besuch der wichtigsten Bühnen der Hauptstadt, inklusive Stadtrundfahrt. Eine Stadtrundfahrt – ob Wilhelm so was mitmachte? ...
Zu Hause entledigte ich mich gar nicht erst meines Mantels oder meiner Schuhe, ich ging schnurstracks durch den Flur ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und schaute in den Spiegel, suchte darin mein Gesicht, das ich anschließend wusch, genauso wie meine Hände. Ich hatte das dringende Bedürfnis nach Wasser und Seife, es tat gut, den Tag sozusagen abzuspülen, ihn mit dem schäumenden Wasser im gurgelnden Abfluß verschwinden zu sehen. – Und wenn Wilhelm doch wieder hier war, und das nicht nur zu Besuch? Bei diesem Gedanken begegnete ich mir erneut im Spiegel, ich wollte das Bild wegwischen, wie man Spinnweben mit energischer Handbewegung aus dem Gesicht streicht, aber es blieb, blieb, blieb. Weshalb er wohl zurückgekommen war? Wenn er es auf mich abgesehen hatte, dann wahrscheinlich nicht, um mit mir ein Bier trinken zu gehen. Ich hatte seinen Namen überhaupt nicht mehr gehört, er erschien auf keinem unserer Klassentreffen, die wir wieder und wieder abhielten, als wollten wir nicht einsehen, daß uns ein Zufall zusammengeführt hatte und keine Fügung dahintersteckte, die uns ein Leben lang zusammenschweißen wollte. Es gab niemanden, der seinen Namen erwähnt hätte, er war tabu, was es nicht ganz trifft, tabu sein heißt ja verschweigen, wohinter man Absicht vermuten darf. Nein, Wilhelm war schlichtweg vergessen worden. Daß er vorhätte, in unseren Ort zurückzukehren, in den ich allein des Elternhauses wegen manchmal fuhr – ich hatte nichts dergleichen gehört. Ich setzte mich in eine Ecke des Wohnzimmers, von der aus ich Karola hantieren sehen konnte, und schwankte zwischen ihrem weißen, sanft geschwungenen Hals, den die blonden Haare bei jeder ihrer Bewegung freilegten, und dem Fenster, entschloß mich dann, meinen Blick hinauszuschicken, wo unten auf den Gleisen die Lichter der S-Bahnen überraschend im Dunkeln auftauchten wie schimmernde Augen von Tieren. Ich saß ganz still und mußte nicht einmal den Kopf drehen, um drinnen und draußen gleichermaßen verfolgen zu können, ja es war ganz leicht möglich, drinnen und draußen, als wäre es ein Spiel, zu vertauschen. Ich saß in meinem Sessel auf den Schienen und erwartete die Begegnung mit diesen herangleitenden gelb-roten Tieren oder ritt bereits auf einem von ihnen und sah, indem ich in den Bahnhof rauschte, zu meinem Wohnblock hinauf, auf dessen Dach die Leuchtreklame grüßte, aus der ich nie schlau geworden war: Wofür warb sie eigentlich? In den erhellten Fenstern im zweiten Stock erkannte ich hinter den Stores niemand anderen als mich selbst. Der dunkle Fahrtwind schlug mir hart ins Gesicht, zog in die Augen, daß sie brannten und ich sie unwillkürlich schloß, während ich versuchte, Schubläden mit Etiketten für meine Gedanken zu finden. Es mußte so scheinen, als sei ich abwesend, ja grenzenlos erschöpft von meinem Tagwerk, und ich unternahm nichts, um diesen Eindruck zu korrigieren.

Rezensionen


"Schönheit, die von innen kommt." Michael G. Fritz erzählt seine konzentrierte, hoch verdichtete Geschichte auf zwei Zeitebenen, mit geschickt eingearbeiteten Nebensträngen und großem Sinn für Sinnlichkeit von Sprachbildern. So entsteht eine Komposition, die den Leser fordert und unbedingt bei der Stange hält. Man wird ganz allmählich, unaufhaltsam in die Beziehungsabgründe der beiden Rivalen geführt. Deren verhängnisvolle Kräfte reichen bis in die Gegenwart. Die bis in alle Feinheiten streng durchgearbeitete Sprache, deren herbe Musikalität einen nach kurzer Zeit nicht mehr loslässt, ist das Ergebnis der eindrucksvollen erzählerischen Könnerschaft dieses Autors. Zugleich bleibt sie bei aller Formulierungskunst immer auf dem Boden der Tatsachen. Fritz erschließt mit seinen Sätzen einen Vorstellungsraum, der ebenso knapp wie vielschichtig die deutsche Geschichte der vergangenen vierzig Jahre umgreift… Es ist ein kleiner Roman, eine komplexe Metapher auf das einst geteilte Deutschland zwischen 1968 und heute, über den Weg vom Bahnhof Friedrichstraße zum Checkpoint Charly nach Westen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung


Das ist hohe Erzählkunst aus der Perspektive eines Kains, der nur verdrängen kann… ‚Die Rivalen' ist eine leicht daherkommende Geschichte mit Wiefgang. ach "Rosa oder Die Liebe zu den Fischen erweist Michael G. Fritz sich einmal mehr als Meister des Entblätterns einer im gesellschaftlichen Dunkel eingelagerten Psyche.

Rheinischer Merkur


Michael G. Fritz ist keiner …, den es nach (oberflächlicher) Aktualität drängt. In seinem Buch "Die Rivalen" erzählt er die Geschichte einer Freundschaft, einer Blutsbrüderschaft, aus jungen Jahren über drei Jahrezhnte hinweg. Er erzählt sie unaufgeregt und sachkundig vor dem Hintergrund des geteilten und des "vereinten" Berlins, er erzählt sie vor dem Hintergrund des Prager Frühlings von 1968. Das Wort "Aufarbeitung" ist in Verruf geraten: Michael G. Fritz gelingt ein subtile Sicht auf die Ereignisse wie sie damals von – in einer Variante – von jungen Menschen erfahren wurden. Es ist auch ein Buch über Liebe, über erfüllte und die ewig währende, wenn sie sich nicht erfüllt, ein erotisches also. Der Text ist gut gedacht und fein gesponnen, dabei spannend wie ein Krimi – Lesegenuß par exellence.

buchäcker


Der Autor ist ein präziser Erzähler mit schönem Sinn für Details. Michael G. Fritz hat mit dieser 160-Seiten-Geschichte eine wunderliche, wunderbare Erziehung des Herzens geschrieben, eine seltsam unberlinische Berlin-Geschichte… Der Titel dieses starken kleinen Romans beschreibt die Grundkonstellation zweier Leben in Berlin, den Anfangs- und den Endpunkt der Geschichte. Als die beiden Männer sich wiedersehen, irgendwann in der nicht besonders weit entfernten Vergangenheit, bricht die Rivalität wieder auf. Weil der eine ein Alpha-Mann ist, der andere ein Omega-Mann? Weil Männer einander immer Rivalen sind? Weil Frauen so sind, wie sie sind? Erst behutsam, dann ganz brutal, wird die geschichte mit Macht zu einer Tragödie.

Tagesspiegel


Fritz ist mit der Konstruktion seines Romans, die sich um einen Kern von Doppelverrat dreht – um Freundesverrat und Liebesverrat zu verschiedenen Zeiten -, ein atemberaubendes Vexierspiel gelungen, das seinen feinen, immer auch poetisch inspirierten Realismus nicht nur doppelbödig macht, passagenweise kippt die Realität in geradezu kafkaeske Szenerien und surreale Bilder um, nur um siem noch schärfer zu fassen, aber auch komplexer zu durchdringen – im Sine jener Untrennbarkeit von Innen- und Außenprozessen, von Seelen- und Oberflächebewegung, die das Leben bestimmt und gute Literatur von jeher ausgemacht hat.

Die politische Meinung


Geradezu überwältigend an den Rivalen ist übrigens die Sprache. Selten erlebt man so sinnliches Erzählen in der deutschen Gegenwartsliteratur.

poetenladen