Michael G. Fritz


Brauchen wir Ketzer?
Marko Martin porträtiert in seinem neuen Buch Intellektuelle, die die Freiheit des Einzelnen verteidigt haben.



Der Titel selbst, so rhetorisch er aufscheint, so provokant ist er auch, dass er die Antwort spontan evoziert: Natürlich brauchen wir Ketzer. Zum Wesen jeder demokratischen Gesellschaft gehört Widerspruch. Das Ende der Demokratie ist dann erreicht, wenn er unterdrückt wird. Marko Martin setzt sich seit Jahren in seinen zahlreichen Reisebüchern und Essaysammlungen mit widerständigem, gegen diktatorische Systeme gerichtetem Denken auseinander. Im Iran, auf Kuba, in Südamerika und Hongkong, wo der Einfluss des kommunistischen China immer stärker wird – überall auf der Welt ist Martin zu Hause (nur nicht in Nordkorea, wie er sagt) und hinterfragt die Länder kritisch. In seinem neuen Buch versammelt er Intellektuelle, die sowohl kommunistischen als auch nationalsozialistischen Verheißungen nicht nur widerstanden haben, sondern gegen sie aufgestanden sind und in den gnadenlos sich in immer schnellerem Tempo ablösenden Zeitläuften fast vergessen wurden. Die vorgestellten Ketzer sind Vorbilder einer demokratischen Gesellschaft, Einzelkämpfer des 20. Jahrhunderts, die nicht über den marxistischen Umweg, über die Versprechen der Menschheitsbeglückung, zu ihren freiheitlichen Auffassungen gelangt sind, sondern um die Gefahren des Totalitarismus wussten. Er widmet sich Intellektuellen wie etwa dem Philosophen und Kulturkritiker Ludwig Marcuse (nicht zu verwechseln mit der Galionsfigur der Studentenbewegung Herbert Marcuse), Alice Rühle-Gerstel sowie ihrem Mann Otto, der als Politiker in Dresden und Pirna wirkte, dem großen Schriftsteller Hermann Broch, dem Auschwitz-Überlebenden Primo Levi und Friedrich Torberg, den Marcel Reich-Ranicki „einen Querkopf mit Esprit, ein österreichisches Wunder und deutsches Ärgernis“ nannte. Aber auch die Kommunistin Anna Seghers sowie der Kommunist Leo Lania, der Biograph Willy Brandts aus Charkiw, werden in diese Reihe aufgenommen. Martin erinnert an Hilde Spiel, in Wien geborene Jüdin, gefeierte Romanautorin, die noch vor dem „Anschluss“ Österreichs nach Großbritannien flieht, Journalistin, Theaterkritikerin der Welt im Nachkriegs-Berlin, Autorin von Reiseessays, Übersetzerin von u.a. Graham Green. Sie kehrt nach langem Zögern zurück nach Wien, obwohl sie zu der Stadt ein ambivalentes Verhältnis hat, wo sich die Geisteshaltung der Menschen offensichtlich kaum veränderte. Sie schreibt später, in ihrem Studium davor bewahrt worden zu sein, sich „in einem philosophischen Überbau nach Art von Martin Heidegger zu verirren“, aber auch, dass sie gegen den Marxismus „imprägniert“ wurde. Hans Habe, ein libertärer Solitär, ebenfalls jüdischer Abstammung, in Budapest geboren, ein Bonvivant, den die Frauen lieben, und Journalist, flieht über das besetzte Frankreich nach Portugal, dann nach Amerika. 1940 ist er Kriegsfreiwilliger der französischen Armee, dann Lieutenant der US-Army, dort Vorgesetzter des Sergeant Stefan Heym, ausgewiesener Verächter von Joseph McCarthy, des Ku-Klux-Klan als auch der Gruppe 47, Roosevelt- und Kennedy-Sympathisant sowie Gegner der APO. Hans Habe, der Verteidiger des amerikanischen Vietnamkriegs, Autor des Springer-Verlags, den die Achtundsechziger, die revoltierenden Studenten aus zumeist wohlhabendem Haus, verachten, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, dass er in ihrem Alter bereits sein Leben gegen die braune Diktatur aufs Spiel gesetzt hat. Was für ein Intellektueller, der fern jeder Ideologie denkt, nur von einer Idee infiziert ist: der Freiheit. Marko Martin, nicht zuletzt durch häufige Lesungen in Dresden bekannt, erweist sich als veritabler Erzähler, der meisterhaft Zusammenhänge und Zitate mit Anekdoten in farbigen Schilderungen zu verbinden weiß. Das Buch, das mit einer enormen Detailfülle aufwartet, ist von brennender Aktualität, die Parallelen zu sich abzeichnenden Totalitarismen in unserer Gegenwart sind frappant.

Marko Martin
„Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht:Portraits“.
Arco Verlag, Wien 2023, 350 Seiten, 20 Euro br />
Michael G. Fritz

Dresdner Neueste Nachrichten, 7.03.2024




Im Zentrum des Taifuns
Nino Haratischwili stellt in der Dresdner Philharmonie ihren brillanten Roman „Das mangelnde Licht“ vor.



Das Motiv des Lichts eröffnet den Roman und schließt ihn nach 832 Seiten, um ihn wie eine Klammer zusammenzuhalten.
Unausgesprochen begleitet es den faszinierten Leser, der das Buch nach der Lektüre nicht aus der Hand legen mag, das Erzählen könnte für ihn immer weitergehen mit dieser Stimme, die ihn sofort in ihren Bann gezogen hat, von der er nicht lassen kann, ebenso wenig von den Geschichten um die vier Freundinnen, in deren Mittelpunkt Dina steht, die Mutige, die sämtliche Konventionen infrage stellt. Als Ich-Erzählerin fungiert die ausgleichende, Schiedsrichter genannte Keto. Die jungen Frauen haben gerade ihre Schule absolviert, das Leben wartet darauf, von ihnen erobert zu werden. Aber mehr und mehr greift Gewalt um sich, wird die Sprache brutal, hat das Streben nach Geld das nach Bildung abgelöst. Das postsowjetische Georgien, gerade seine Unabhängigkeit nach blutigem Kampf von Russland erlangt, sucht nach dem neuen politischen System. Die Freiheit ist kein Garant für den Einzelnen, frei zu sein. Das Land versinkt im Chaos, Bandenkriminalität, Bürgerkrieg ebenso wie die allgegenwärtige Korruption beherrschen die Straßen.
Dina, inzwischen zu einer renommierten Fotografin geworden, ist tot, soviel steht von Anfang an fest. Die drei Freundinnen treffen sich zwanzig Jahre nach ihrem Tod auf der Vernissage einer Ausstellung von Dinas Fotos in Brüssel – so die Rahmenhandlung. Durch die Arbeiten angeregt erinnert sich Keto. Sie erzählt aus ihrer Perspektive die Geschichten der Freundinnen, allen voran die von Dina. Wie sie die Gruppe anführt, wie sie für Gerechtigkeit sorgt und die anderen mitreißt. Sie verliebt sich in den ungestümen Rati, den Bruder von Keto, aus dem später ein Mafioso wird, der durch eine Intrige ins Gefängnis kommt. Um die Wärter zu bestechen, bringen Dina und Keto mit großer Mühe fünftausend Dollar zusammen. Auf dem Weg zum Gefängnis weichen sie wegen einer gewaltsam aufgelösten Demonstration in den Zoo aus, wo sie Zeuge eines Mafiamordes werden. Die beiden Frauen verhindern einen weiteren, indem sie mit eben jenem Geld einen bereits totgeweihten Mann freikaufen. Dina kann Rati dennoch aus dem Gefängnis herausholen, was für alle Beteiligten folgenreich wird.
Es gibt Bücher, die sich dem Leser für immer in sein Gedächtnis einbrennen, dieser Roman mit der Schlüsselszene im Zoo gehört unbedingt dazu – ein Beispiel für große Erzählkunst. Sie schildert nachdrücklich die allgemeine Rechtlosigkeit, aber auch den humanistischen Impetus der beiden Freundinnen: Licht und Schatten, beide dicht nebeneinander.
Alle Vier leben im Zentrum des Taifuns, werden täglich mit Verbrechen in der unmittelbaren Nähe konfrontiert, sind jedoch durch familiäre Bande den Tätern verpflichtet und zugleich deren Opfer. Wenn Dina sagt: „Ich bin ein freier Mensch und kann tun und lassen, was ich will“, dann trifft sie die Haltung aller Freundinnen. Ihr Freiheitsdrang jedoch steht im eklatanten Gegensatz zur patriarchalisch organisierten Gesellschaft, ihre Versuche des selbstbewussten Lebens fordern die Männer heraus, indem sie mit Gewalt reagieren.
Der Roman, wortreich, bildgewaltig und mit beeindruckender Wucht erzählt, folgt grob einer Chronologie, wartet mit überraschenden Sprüngen in die verschiedenen Zeitebenen auf. Das Erzähltempo wird durch sie nicht geschmälert, weil der Spannungsbogen nie abreißt. Die Schriftstellerin führt Figuren ein, die viel später wieder auftauchen und an die man sich sogleich erinnert, weil sie sich mit den wenigen Strichen, die dafür gebraucht werden, dem Leser eingeprägt haben. Nino Haratischwili, 1983 in Tbilissi geboren, lebt seit 2003 in Deutschland, sie ist preisgekrönte Theater- und Romanautorin. Ihre georgische Familiensaga, der Roman Das achte Leben (Für Brilka), wurde ein weltweiter Bestseller.
Die Schriftstellerin liest am 16.1., um 19.30 Uhr in der Dresdner Philharmonie im Rahmen der Lesereihen Sprachen machen Leute des Erich Kästner Hauses für Literatur und Unerzählt. Wie Kriege Generationen prägen der Städtischen Bibliotheken und der Philharmonie, in Kooperation mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, der SLUB und der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Nino Haratischwili
„Das mangelnde Licht“
Frankfurter Verlagsanstalt, 34,- €

Michael G. Fritz

Dresdner Neueste Nachrichten, 15.01.2024




Die Zeit zum Stehen bringen
Olga Martynova liest aus ihrem neuen Buch „Gespräch über die Trauer“



Es geht um nichts Geringeres als den Tod. Die Tatsache, dass es ihn gibt, begleitet uns, seitdem wir leben. Dass Sterben zum Leben gehört, ist eine Plattitüde, die nur dazu erfunden wurde, uns zu trösten. Aber was geschieht mit uns, wenn der Tod den Menschen neben uns nimmt und eine Lücke in unser Leben reißt, die niemals mehr geschlossen werden kann? Wie trauern wir? Olga Martynova hat nach dem Tod ihres Mannes, des russischen Dichters und Übersetzers Oleg Jurjew, mit dem sie 37 Jahre zusammengelebt hat, vier Jahre an diesem ebenso beeindruckenden wie außergewöhnlichen Essay geschrieben, an diesem Trauerbuch.
Wer nicht aufhören kann zu trauern, muss lernen mit der Trauer zu leben, die dadurch ein ständiger Gast ist und mit ihr der Tote. Durch die Trauer hört er vielleicht auf, tot zu sein. Einen Monat nach dem Tod Jurjews beginnt der Essay, in der Form eines Tagebuchs geschrieben, im August 2018 mit den Sentenzen: „Angesichts des Todes: Abwesenheit der Gegenwart. Gleichzeitiger Lauf der Vergangenheit und der Zukunft. Dazwischen ein Vakuumkorridor.“ Es sind tastende Worte wie Schritte auf Eis, das Unfassbare zu erfassen. Sie hat lange Zeit gehabt, sich auf diesen Moment vorzubereiten, der sie dennoch mit voller Wucht trifft. Weshalb sie beschließt, dieses Buch zu schreiben? Sie will wissen, wie andere Trauernde damit umgehen, was man nicht umgehen kann. Olga Martynova sucht das Gespräch mit Texten anderer Dichter, von Canetti und Montaigne, Barthes, Poe und Novalis. Immer wieder taucht in verschiedenen Versionen der Mythos von Orpheus und Eurydike auf, mit ihm die Frage, ob Kunst und Liebe den Tod besiegen können. Wenn Orpheus mit seinem Gesang und seiner Leier die Götter rührt, die verstorbene Eurydike aus dem Totenreich zurückholen darf, aber deren Bedingung nicht einhält, indem er sich umwendet, verliert er seine Geliebte endgültig. Bei Martynova heißt es: “Jeder Trauernde ist Orpheus: Man ist in der Hölle. Man spürt die Nähe des oder der Toten. Man hat das Gefühl, versagt zu haben.“ Eine andere Perspektive beschreibt die Frage, ob die Verstorbene überhaupt zurückwill. Schopenhauer meint, dass die Toten, fragte man sie, ob sie wieder aufstehen wollten, mit den Köpfen schütteln würden. Sie haben schließlich das Sterben hinter sich. Der Krieg in der Ukraine bricht häufig in das Leben der Dichterin ein, in ihr kommt das Gefühl von persönlicher Schuld auf sowohl an Mord und Zerstörung aber auch, wenn Menschen in Russland bei Antikriegsdemonstrationen misshandelt werden. Die Solidarität untereinander, die während der kommunistischen Diktatur herrschte, scheint verloren zu sein. Sie versteht, dass die Ukrainer Einladungen zu Konferenzen und Demonstrationen ausschlagen, zu denen auch Russen eingeladen werden, aber dadurch würde das, was als normales Leben in Russland noch existiert, vernichtet. Wir treffen auf eine Dichterin, die präzise differenziert: Trauer, erfahren wir, ist Trauer, nichts anderes, nicht Schmerz, weder Verzweiflung noch Lebensunlust. Sie schreibt, um Oleg Jurjew nah zu sein. Wir, die Leser, dürfen an diesem Prozess teilhaben. Ihr Schreiben stellt nicht den Versuch der endgültigen Loslösung, der Bewältigung gar des Trauerzustandes dar, was möglichweise mit dem fertigen Buch hätte geschehen können. Es hält den herrschenden Zustand fest. Beide stammen aus der Sowjetunion, sie sind bereits ein Paar, als sie 1991 nach Deutschland kommen. Seit 2018 schreibt sie ausschließlich auf Deutsch, zuletzt erschien der Roman „Der Engelherd“ und die Essaysammlung „Über die Dummheit der Stunde“. Mehrfach ausgezeichnet, wurde ihr unter anderen der Ingeborg-Bachmann-Preis und der Berliner Literaturpreis verliehen. Russisch ist die Sprache ihrer Trauer, durch sie ist die Dichterin mit Oleg Jurjew verbunden.

Olga Martynova liest im Rahmen der Reihe „Sprachen machen Leute“ am 26.9., um 19.00 Uhr im Erich Kästner Haus für Literatur. Die Veranstaltung wird gefördert durch die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung und die Thalia Buchhandlung.

Olga Martynova
„Gespräch über die Trauer“
S.Fischer Verlag, 25,-€

Michael G. Fritz

Dresdner Neueste Nachrichten, 25.09.2023




Klingsor und die jungen Leute
Wenn es um alles geht
Francesco Micieli liest aus seinem neuen Buch



Wir werden den Sommer nicht überleben, beteuern sie. Eine Gruppe junger Menschen aus aller Welt findet zueinander, ist von aufrichtiger Sorge um die Zukunft der Erde erfasst. Was bewirkt eine Erhöhung der Temperatur um 1,5 Grad Celsius, wie sieht dann die Erde aus? Was geschieht mit uns, wird unsere Existenz gefährdet sein?
Es ist Sommer, vielleicht der letzte Sommer, den sie noch in gewohnter Weise zu erleben vermögen wie der Maler Klingsor in Hermann Hesses titelgebender Erzählung. Die wenigen Monate vor seinem erahnten Tod sind geprägt von einer intensiven Anstrengung, um Gedanken freizusetzen, von großen Hoffnungen erfüllt. In ausgiebigen Wanderungen erobert er sich die Natur, feiert sie, indem er sie in glühenden Farben auf seinen Bildern festhält: ein Widerschein der Welt, die für ihn verlorengeht. Die jungen Leute, deren Credo lautet: „nicht ideologisieren, sondern poetisieren“, bilden eine kleine Gruppe, mit der Selbstbeschreibung, zwar jung, aber nicht kräftig zu sein – ein Eingeständnis der eigenen Ohnmacht? Recht vereinfachend heißt es, die Mächtigen gäben nie etwas zurück. Sie nähmen nur und wollten immer mehr. So sehr die Gruppe die kapitalistischen Strukturen der Gesellschaft auf den Prüfstand stellt, so wenig sind tatsächlich terroristische Aktionen von ihnen zu erwarten. Von sogenannter Klimakleberei, die unser tägliches Leben willkürlich einschränkt, ist nie die Rede.
Die Gruppe trifft sich unter der großen Platane bei Watter, weshalb das Manifest der Gruppe nach dem Ort benannt wird. Der erste Satz lautet: „Wir wollen eine gute Welt für alle. Mit alle meinen wir alle!“ Dieser a priori altruistische Gedanke, führte er indes nicht bisher sämtliche betroffenen Gesellschaften in totalitäre Strukturen? Wer denn bestimmt, wie die gute Welt auszusehen hat? Wie soll die Veränderung der Gesellschaft durchgesetzt werden? Francesco Micieli versteht es, sehr eindringlich die Komplexität des Themas darzustellen. Der Text ist wie ein Epos gestaltet, die Sprache poetisch, pointiert, bei aller Schwere des Inhalts, von somnabuler Leichtigkeit. Die Figuren unterscheiden sich kaum mehr als in ihren Namen von einander. Sie postulieren aus unterschied- lichen Perspektiven Botschaften, die stets besorgt, dringlich, manchmal geheimnisvoll aufscheinen. Zitate von Dichtern stellen Parallelen zu früheren Zeiten und anderen Regionen, eingestreute Erzählungen einen mythologischen Zusammenhang her. Im Zentrum steht Ginkgo, der von allen Seiten ungebrochene Zuneigung entgegengebracht wird, die eines Tages aus unerfindlichen Gründen verschwindet. Ob sie geflohen oder gar entführt worden ist, um die Gemeinschaft zu schwächen, bleibt offen. Ratlosigkeit macht sich allenthalben breit, wird sich die Gruppe auflösen?
Literatur lebt von Widersprüchen, sie darf provozieren, kryptisch und ungerecht sein, um ihrerseits Widerspruch herauszufordern, den jede demokratische Gesellschaft benötigt, um sich weiterzuentwickeln und dadurch glaubwürdig zu bleiben. Ohne Widerspruch droht sozialer Stillstand.
Micieli, italoalbanischer Abstammung, geboren in Santa Sofia d‘Epiro, Kalabrien, kam 1965 mit seinen Eltern ins schweizerische Emmental. Er lebt heute in Bern, arbeitet als Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur. Die bekanntesten literarischen Werke des vielfach ausgezeichneten Autors sind „Meine italienische Reise“, „Mein Vater geht jeden Tag vier Mal die Treppe hinauf und herunter“ sowie die Erzählung „Vom Verschwinden der Cousine“.
Francesco Micieli liest im Rahmen der Reihe „Sprachen machen Leute“ am 20.6., um 19.00 Uhr im Erich Kästner Haus für Literatur. Die Veranstaltung wird gefördert durch die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung und die Thalia Buchhandlung.


„Plus 1,5 Grad Celsius“, Roman
Verlag Die Brotsuppe
24,00 €

Michael G. Fritz

Dresdner Neueste Nachrichten, 17./18.6.2023



Eros und Partnerschaft


Renate Preuß legt mit ihrem neuen Erzählband „Nächtliches Zwiegespräch“ Liebesgeschichten vor. Solange Menschen leben, gibt es auch Geschichten über die Liebe, die möglicherweise desto intensiver empfunden wird, je größer der Erfahrungsschatz der Protagonisten ist. Renate Preuß erzählt jedenfalls mit großer Eindringlichkeit von den Dingen zwischen Mann und Frau. Einmal steht die üppige, rothaarige Mathilde im Zentrum, die halbwüchsige Männer in die Mysterien der körperlichen Liebe einweiht, ein andermal der ebenso charmante wie attraktive Restaurantbesitzer Vangelis, ein von den Touristinnen auf Lesbos begehrter Mann, der später eine vierzig Jahre jüngere Frau heiratet. Sie feiert mit Freunden, während er sich mit dem gemeinsamen Kind schlafen legt. In „Lieb und schön“ trifft die Ich-Erzählerin nach vielen Jahren ihren Briefpartner wieder, mit dem sie eine tiefe Zuneigung verbindet, der sie nun jedoch, an Demenz erkrankt, kaum wiedererkennt. In der titelgebenden, umfangreichsten Geschichte des Bandes berichtet die betagte Marta von ihrem beharrlichen Bemühen, ihre Ehe zu retten, als sie mit dem dritten Kind schwanger und ihr Mann in eine andere Frau verliebt war, die nun nach vielen Jahren beerdigt wird. Dieser Text ist ein beeindruckendes Bekenntnis zur Ehe, die ein Leben lang währt. Der Erzählrahmen wird weit geöffnet, nebenher auf selbstverständliche Weise Zeitgeschichte eingefangen. Es geht bei der Autorin immer auch um das Vergehen der Leidenschaft, um das, was daneben noch existiert und vielleicht den eigentlichen Reichtum der Partnerschaft ausmacht.
Renate Preuß stammt aus Riesa, hat immer dort gelebt, immer in demselben Haus, in dem sie auch geboren wurde. Sie ist im wahrsten Sinn des Wortes eine bodenständige Autorin. Ihr Werk, das uns von schlichter Schönheit begegnet, stellt eine fortdauernde Feier der beschaulichen Gegend zwischen Leipzig und Oschatz, Meißen und Nossen dar, eines Landstrichs, der andauernd Stoff birgt, weil sich im Kleinen das Große spiegelt, die Tragödien der Welt finden überall statt, auch in der scheinbaren Idylle.
Ihr Erstling heißt „Tagträume und Nachtgedanken. Aus dem Tagebuch einer Patientenbibliothekarin“. Es handelt sich um ein Buch über die Zeit des Umbruchs 1990, das ungeschönt erzählt und unverdrossen von Zuversicht lebt. Die folgenden zahlreichen Bücher sind Erzählungs- und Erinnerungsbände, von denen „Die Geschichte vom Mädchen ohne Hände“ genannt sein soll. Neben Kinderbüchern umfasst ein Band Weihnachtserzählungen, die ihre Wurzeln im sächsischen Kulturgut haben, zu dem Koch- und Backkunst gehören. Ihrem Werk, das dem scheinbar Nebensächlichen Wert und Gewicht gibt, geht der Gedanke an Flüchtigkeit ab, es thematisiert mit einer ganz eigenen Poesie das Bewahrenswerte, dessen nicht unwesentlicher Teil die Liebe ist.


„Nächtliches Zwiegespräch und andere Liebesgeschichten“
Dresdner Verlag Holger Oertel
12 €



Michael G. Fritz

Dresdner Neueste Nachrichten, 3. Mai 2023




Glückssucher und Glücksritter
Andreas Montag legt mit seiner Erzählung ein beeindruckendes Buch vor.


Es gibt diese eine vibrierende Nacht, die nicht mit Schlaf gefüllt wird, in der sich stattdessen wie im Traum das weitere Leben entscheidet. Andreas Montag erzählt lakonisch, in gleichem Maße eindringlich davon. Die beiden jungen Leute Paul und Linda wohnen in Berlin, im prosperierenden Bezirk Prenzlauer Berg, zwischen Storkower, Oderberger und Kastanienallee, wo die Mieten rasant steigen. Paul singt zur Gitarre eigene Lieder, arbeitet als Hausmeister in dem Gebäude, das Herrn Körner gehört wie viele andere in der Umgebung auch, einem Miethai, von allen Mogul genannt. Er wohnt in der obersten Etage, die eine Tür versperrt, der Fahrstuhl zu ihm kann nur mit einem Code bedient werden. Linda, die ihr Studium aufgegeben hat, in einem Café arbeitet, ist an diesem Sonntagabend zu ihm eingeladen. Sie rätselt beklommen, weshalb und kann sich keinen Reim darauf machen. „Wir müssen mal über ihre Zukunft reden, Linda, hatte Körner gesagt.“ Paul wird ebenfalls unterwegs sein, er hat einen Auftritt in „Robins Garden“ in Weißensee, wo die Kiezbewohner unter sich sind, der unsanierte Hinterhof steht noch in keinem Reiseführer. Pauls Eltern, zu Besuch aus Thüringen, passen auf ihren Enkel auf, Paul und Linda können unbeschwert ausgehen, nur gehen beide jeweils ihrer eigenen Wege. Sie haben jeder dem anderen seine Freiheit zugebilligt; nur wenn es ernst wird, dann sollte Bescheid gesagt werden. Bisher aber hat keiner von seiner Freiheit Gebrauch gemacht. Als Körner seinen Swimmingpool auf dem Dach, dann sich selbst darin vorführt, Linda sich ihm selbstverständlich anschließt, spürt sie plötzlich, dass sie für ihn bereit ist: Macht entfaltet allemal ihre Wirkung. Aber der Mogul hat anderes, Geschäftliches mit ihr im Sinn. Paul spielt Gitarre unter demselben Himmel von Berlin, auch er bekommt ein Angebot, von einem Manager. Ein Professor hält einem imaginären Publikum eine Vorlesung, eine geheimnisvolle Grünäugige lässt nicht von Paul ab. Allmählich wird die Wirklichkeit durch Phantasmagorien ersetzt, nichts ist gesichert, nichts greifbar. Erst am Morgen finden Paul und Linda zueinander. Beide misstrauen vor allem sich selbst. Ist es Verrat, wenn Linda für den Mogul arbeitet? Wird sich Paul untreu, sobald sich Erfolg einstellt? Können sie nach dieser Nacht überhaupt glücklich werden? Und was ist das eigentlich: dieser flüchtige Zustand namens Glück? Montag geht den Fragen nach, die den Leser während der Lektüre und darüber hinaus unmittelbar beschäftigen. Seine unverstellte Sprache, zu der kurze, wie aus Stein gemeißelte Sätze gehören, entwickelt eine ganz eigene Poesie, durch die ihm atmosphärisch dichte Schilderungen gelingen. Andreas Montag, Bibliothekar, Packer, Krankenhausseelsorger, studierte am Literaturinstitut in Leipzig, lebt in Halle und Berlin. Mit seinem Debüt, dem Roman „Karl der Große oder Die Suche nach Julie“ und der Teilnahme an der Lesung zum Ingeborg-Bachmann-Preis 1990 wurde er weithin bekannt. Zuletzt erschienen der Roman „Mannestreu“ sowie das Künstlerbuch „Paradies“ mit eigenen Gedichten und Grafiken von Hélène Bautista (Paris).
Michael G. Fritz



„Glückliche Menschen“
Erzählung
Andreas Montag
Quintus Verlag, Berlin 2022
20,00 €



Dresdner Neueste Nachrichten, 29.12.2022