Rosa oder Die Liebe zu den Fischen
Michael G. Fritz
Rosa oder Die Liebe zu den Fischen
Roman
187 S., geb. mit SchU
Reclam Verlag, Leipzig 2002
ISBN 978-3-37900-790-0
Preis: 18,90 €
Leseprobe
Ihr Zimmer, das sie mir in der nächsten Woche zeigte, lag im ersten Stock, zu dem eine breite, leicht geschwungene Holztreppe führte, deren Stufen knarrten. Das Geländer war durch unzähliges Darüberfahren glatt und glänzend wie Glas geworden, nur dass es sich im Gegensatz dazu warm anfühlte.
Den Treppenabsatz zierten eine übermannshohe Standuhr, hinter deren Glastür ein Perpendikel seinen stets gleichen Weg gehen musste und ein großes Aquarium, das in den grünen Dämmer des Flurs hinein ein leises, aber beständiges Sirren schickte. Die Fische, als wollten sie auf sich aufmerksam machen, stießen uns entgegen: mit dem Maul sanft gegen die Glasscheibe, immer wieder. Rosa hockte sich davor, dicht, ganz dicht am Glas, um ihr Gesicht zogen die Fische enge Kreise. Rosa lächelte ins Aquarium hinein. – Neugieriges Volk, rief sie scherzhaft und schnippte mit den Fingern in Richtung des Glases. – Liebst du Fische?
Sie gefallen mir, ja, sagte ich.
Sie sind so wichtig, was wäre ich ohne die Fische, stellte sie fest und gab keine weitere Erklärung ab.
Beim Eintreten in Rosas Zimmer, in dem sie seit Kindertagen wohnte, zog sofort ein massiger Schreibtisch mit Computer den Blick auf sich; sorgfältig gestapelte Papiere, Hefter und Zeitungen wuchsen zu ansehnlichen Stößen, abgegriffene Bücher füllten die Regale. Über die Hälfte der Wand erstreckte sich ein Ledersofa, das dazu einlud, Platz zu nehmen.
Wir tranken Kaffee, den Rosa auf einem sicher mit der Linken balancierten Tablett hereingebracht hatte, wir tranken und hörten die alten Sachen von ihrem ebenso alten Tonbandgerät, Stücke von Deep Purple, Doors, Rolling Stones, Blood Sweat and Tears und natürlich Jimi Hendrix: All Along the Watchtower. Ich sagte: Chicago, was sie mit dem Wort Moment quittierte und gleich darauf mit dem Titel Make Me Smile; ich sagte: Procol Harum und bekam A Wheiter Shade of Pale zu hören. Es war wieder ein bisschen wie damals, als uns alles offen schien.
Wir ließen uns in die Polster zurücksinken und sangen mit, so gut wir konnten und freilich des Englischen mächtig waren, oder summten wenigstens die Melodie. Diese Titel, so selten ich sie hörte – ich fand nicht, dass sie Staub angesetzt hatten. Wir waren mitten in A Wheiter Shade of Pale, als Rosa das Gerät leiser stellte, Erzählanfänge probierte, es schließlich, da sie sich durch die Musik verzettelte, ganz ausschaltete, worauf ich die Musik zurückverlangte.
Hör mir bitte zu. Du musst nichts weiter tun, nur mir zuhören, sagte sie. – Vielleicht klingt das komisch...
Komisch? Wiederholte ich und zuckte mit den Schultern. Ich wusste nicht, was mit ihr los war.
Sie senkte die Lider, voller Konzentration, bis sie die Worte gefunden hatte.
Die Rose bewegte sich, sagte Rosa, die roten, blau eingefassten Blütenblätter wurden geöffnet und wieder geschlossen, und der Stiel schwankte, als stünde die Rose im Wind. Rosa musste lachen, es sah wirklich so aus, als würde Wind wehen. Der Vater spannte den rechten Arm an, er ließ die Muskeln rollen und blies dabei über die Blume, die Lippen gespitzt, und die Luft, die durch das winzige Loch drang, begleitete ein lang gezogener Pfeifton, bei dem es Rosa kalt wurde und sie am liebsten den Mantel hervorgeholt, den Pelzkragen hochgeschlagen und die von Mutter gestrickten Fausthandschuhe angezogen hätte. Wenn feine Tröpfchen mitkamen, regnete es, die Blume wurde nass, Rosa zog mit dem Handrücken darüber: Die Blume ließ sich nicht wegwischen, aber die Blütenblätter schlossen augenblicklich, als würden sie die Hand, die sie berührt hatte, fangen wollen. In Rosas Lachen fiel das Lachen des Vaters ein.
Nachdem ich geklingelt hatte, breiteten wir uns auf der sonnenüberströmten Terrasse aus, aber es hielt uns dort nicht, auch nicht unter dem Schirm, Rosa und ich zogen weiter durchs Wohnzimmer, durchs Haus, wobei jede Bewegung Schweiß aus den Poren jagte. Als wäre es unser unausgesprochenes Ziel gewesen, fanden wir uns auf dem Ledersofa wieder, das bei der Hitze angenehme Kühle verströmte; wir nahmen, in eine Ecke sinkend, die Beine hoch und schlossen die Augen. Ich tat, als ob mir wirklich nichts anderes einfiele, als zu dösen, blinzelte nur ab und an; ihre Gesichtszüge hatten sich entspannt wie bei einem Schlafenden. Ich wartete, griff dann aber – ich konnte es nicht länger aushalten – nach Rosa, kreiste mit den Fingerspitzen, gleichsam spielerisch, über ihren nackten Oberarm und zog bis zur Schulter. Rosa legte den Kopf gegen meinen Handrücken, ihr Haar strich daran entlang. Es zeigte sich um die Ohren herum, an den Schläfen und an der Stirn derart kraus, als sei sie durch Regen gegangen und eben aus dem Badezimmer gekommen, wo sie ihre Haare trocken gerieben hatte. Ich schickte meine Hand unter den Träger ihres Kleides, auf dem eine Blumenwiese blühte, und streifte ihn schließlich ab. Der Träger des Mieders schnitt in ihre Haut, die weich war, weich und warm und kalt. Rosa bekam eine Gänsehaut, und ihr sommersprossiges, nicht geschminktes Gesicht begann zu glühen wie von Fieber. Die Röte fiel fleckig über das Kinn, den Hals, in den Ausschnitt des Kleides und stieg bis in die Spitzen der Ohren. Sie schien mir ihren Körper entgegenzustrecken, der geradezu auf Berührung aus war, und ihre Augen wurden schmal und glühten katzenhaft grün. Sie versprachen einiges, dann aber, als meine Lippen ihre suchten, spiegelte sich in ihnen Erschrecken: ein Erschrecken über mich oder über sich selbst?
Im gleichen Moment wandte sich Rosa ab und sagte: Lass mir Zeit. Versprich, dass du mir Zeit lässt. Sie erhob sich, öffnete das Fenster und hockte sich auf dessen marmorne Bank. Es war still, nur die Vögel zwitscherten. Die Luft, die aus dem Garten ins Zimmer drang, war sparsam durchwoben von dünnen Rauchfäden, die, langsam, aber beständig unter der Decke ein Gewirke bildend, unverkennbar von einer vorzüglichen Zigarre stammten. Und Stimmen durchbrachen den Abend, helle Stimmen, die kreuz und quer über die Terrasse stoben.
Kinder, rief ich, Rosa, hier gibt's ja Kinder.
Warum denn nicht, sagte sie. Das Haus ist groß genug für Kinder. Die beiden gehören zu Herrn Barth, der im Garten nach dem Rechten sieht. Er bringt manchmal seine Enkel mit, fügte sie hinzu.
Wenn Rosa zu erzählen begann, sprach ihr ganzes Gesicht und fesselte den Betrachter, und ihr Blick räumte dem Redefluss sämtliche Hürden aus dem Weg. Ich hatte keine Ahnung, weshalb sie mir das alles erzählte, aber ich spürte, dass sie etwas loswerden wollte und mich dazu brauchte.
Der Stahlbesen, sagte sie, der Stahlbesen zog über den Rasen, kratzte Moos heraus, Jahr für Jahr das Moos, das nicht müde wurde, den Rasen zu durchsetzen, um ihn mit seinen dicken Kissen schließlich zu ersticken und an seiner Stelle weiter zu wuchern, bis nur Moos übrigbliebe: im ganzen Garten nichts als filziges, immergrünes Moos.
So müsste es gehen, stellte sie fest, genauso. Dann nahm sie den Faden wieder auf.
Es galt, das Moos auszuharken, auch wenn sich Rosa die Haare sträubten, sobald die Zinken über den Betonsockel des Zauns fuhren – mit energisch geführtem Stahl ausharken, wie einer schweren Krankheit durch eine radikale Behandlung begegnet werden kann. Allmählich überwogen die bloßen Sandflecken, und im gleichen Maße wuchs der Berg aus Moos, der, als könne er wirklich eine Krankheit übertragen, auf den Bürgersteig zum gesammelten Laub gekehrt, mit diesem angesteckt wurde und die ganze Nacht über zu weißer Asche glomm. Die schweren, beißenden Schwaden, die noch am nächsten Tag im Geäst der Bäume zu hängen schienen, wenn die Asche längst in den Garten, auf den Komposthaufen getragen worden war, die Schwaden zogen wie Nebel durch die Straßen. Ein Mann kam den Zaun entlang, ein Herr unter seinem modischen Hut, eine hellbraune Aktentasche unter dem Arm. Er befand sich nicht auf dem Heimweg von der Arbeit; es war offensichtlich, dass er sich hier nicht auskannte. Er verglich Namen auf Schildern und Hausnummern mit Angaben auf einem Zettel, den er in der Hand hielt und blieb an ihrem Tor stehen. Er suchte nach dem Klingelknopf, bemerkte Rosas Mutter und fragte, als er ihren Namen hörte, nach deren Ehemann.
Tournièr, stellte er sich vor, wobei er kurz seinen Hut
lüftete.
Er unterhielt sich mit Rosas Mutter, die ihre Hand an der Wickelschürze abgewischt hatte, um sie ihm zu reichen, während das Mädchen fortfuhr zu arbeiten und über das Geräusch des Harkens kaum ein Wort verstand.
Als Herr Tournièr sich verabschiedete, sagte er: Und vergessen Sie nicht, Ihren Mann zu grüßen, wir kennen uns von der SA. Er hört noch von mir.
Die Mutter wandte sich um, vorsichtig und dennoch behende, wie man sich umwendet, wenn einen die Angst dazu treibt: Wer ist in der Nähe, hat er was gesehen und, vor allem, was hat er gehört. Und der von Angst getriebene, hastende Blick fand niemanden außer Rosa, an der er haften blieb. Rosa? Das Mädchen harkte den Rasen sauber, sie hatte wohl nichts gehört. Das sagte der Blick und dann sagte er: Außerdem, was weiß denn ein Kind.
Rezensionen
Rosa führt durch die Zeitschichten hindurch, aber nicht hinweg: Das Gewesene hat sich in ihr und ihrem Haus eingenistet wie Schimmelpilz, hält Zimmer und Köpfe besetzt. Verschachtelt wie die Räume sind die Fährten und Motive, die Michael G. Fritz seinem Ich-Erzähler ausstreut. Feinnervig nimmt er Stimmungen und Veränderungen wahr, setzt sie bildlich um, und läßt sie im feinen Rhythmus seiner Sprache bedrohlich klingen. In den verhaltenen und doch starken Beobachtungen, seiner beredten Metaphorik, liegt wohl die größte Kraft des Buchs. Fein wie Sinnfäden ist das Sprachnetz, das den Ich-Erzähler sachte um die stickige Atmosphäre des Hauses zieht. Die Merkwürdigkeiten des Gebäudes, Rosas Attraktivität, und ihre immer unheilvoller werdenden Geschichten verbinden sich zu einem unwiderstehlichen Sog.
Der in Berlin aufgewachsene Dresdner publizierte seit 1980 in der DDR, erregte 1994 mit seinem ersten Roman "Das Haus", 1999 mit dem Kurzprosa-Band "Der Geruch des Westens Aufsehen. Michael G. Fritz weiß detailgenau und sinnfällig über deutsch-deutsche Verhältnisse zu schreiben. Was seinen neuen Roman darüber hinaus lesenswert macht, sind sein wunderbar leserlicher, literarisch federleichter, bildhafter Stil und die Mehrschichtigkeit vieler zeitlos gültig anmutender Gedanken, die der Autor unter Zuhilfenahme scheinbar alltäglicher, doch zwielichtiger Charaktere und Schauplätze mit unverwechselbarem Humor und feinfühliger Ironie vermittelt. Grausame Wahrheit ist nur durch Flucht ins Absurde zu ertragen.
Michael G. Fritz beschreibt die staubig düstere Atmosphäre, die den Aufenthalt des Ingeneurs im Haus seiner Geliebten zu einem surrealen, fast klaustrophischen Trip macht. Und Fritz erzählt eine Liebesgeschichte, die zu Ende geht, als es ken Geheimnis mehr zu erzählen gibt. Ein leises und tiegründiges Buch, das durch seine Leichtigkeit besticht.
Dem Dresdner Schriftsteller Michael G. Fritz gelingt es mit selten zu lesender Leichtigkeit, den Ich-Erzähler in Rosas absurder Welt einzufangen und den Leser in seinen Bann zu ziehen. Sich aus der Umklammerung der Villa und seiner dubiosen Bewohner zu lösen, scheint fast unmöglich. Wenn sich große Literatur durch das Doppelbödige im scheinbar Alltäglichen auszeichnet, hat sich Michael G. Fritz in die Meisterklasse der Erzähler hineingeschrieben.
Neben der interessanten Geschichte liegt die große Stärke des Romans in der Distanz des Autors zu den beschriebenen Geschehnissen. Er erweckt den Eindruck, neutral zu sein, was seinem Werk den Anschein von Authentizität und Objektivität verschafft. Er erlaubt es den Bildern der geschreibenen Sprache, für sich zu sprechen, was seinen Roman zweifelsohne besonders lesenswert macht.
Der ostdeutsche Autor Michael G. Fritz schrieb eine Hymne auf die Liebe und das Ergründen der großen und kleinen Geheimnisse des Lebens. Packend und detailverliebt erzählt.