Adriana läßt grüßen
Michael G. Fritz
Adriana läßt grüßen
Roman
288 S., geb. mit SchU, 130 x 200 mm
Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2012
ISBN 978-3-89812-932-9
Preis: 16,95 €
ET: Juli 2012
Rezensionen
Sein neuer Roman "Adriana läßt grüßen" ist ein ordentliches Stück moderner Erzählprosa, das die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts zwar als Schilderung einer Familiengeschichte behandelt. Zugleich aber ist er eine Geschichte über Heimatlosigkeit, Identitätskrise und die Suche nach der wahren Liebe.
Das ist alles schön und sparsam erzählt, und man staunt darüber, dass auch einheimische Schriftsteller nach ihrem Zuhause und ihrer Identität suchen, was sich doch bis jetzt meistens Autoren mit dem sogenannten Migrationshintergrund vorbehalten haben.
Man muss dem Roman wünschen, dass er auch solche Leser findet, die in ihren Köpfen immer noch in Westdeutschland leben und gar nicht mitbekommen haben, dass es die DDR gar nicht mehr gibt.
Michael G. Fritz erweist sich als Akrobat, dem beim Jonglieren keine Kugel aus der Hand fällt. Boris' Bild von seiner Adriana wird zwar erschüttert. Aber wie? Dafür hat der Zauberer Michael G. Fritz eine besondere Formel ersonnen.
Michael G. Fritz ist einer der interessantesten und sprachmächtigsten Autoren seiner Generation, der zwar um die Sehnsucht des Menschen nach dem ultimativen Lebensglück weiß, aber realistisch genug ist, das Scheitern nicht auszublenden, das auf dem Weg dahin an allen Ecken und Enden lauert.
Wie schon Michael G. Fritz' frühere Romane besticht auch sein Neuer durch eine so stimmige wie wortmächtige Fabulierkunst. Die Familiensaga braucht den Vergleich nicht zu scheuen mit Günter Grass' bildstarken und skurrilen Motiven in der Blechtrommel oder im Butt.
Geschickt versteht es dieser Autor, die Spannung bis zum Schluss zu halten. Immer neue, rätselhafte Signale bekommt seine Hauptgestalt von jener Adriana, Spuren, denen er fieberhaft nachjagt. So wird es auch ein Roman der Unrast; nicht zufällig sind Bahnhöfe die wichtigsten Schauplätze.
Michael G. Fritz erzählt realistisch, doch dann sehen wir zum Beispiel ein seltsames Graffiti an einer Hauswand, das bald verschwindet, bald wieder da ist. Besonders aber einen Buckligen, eine Art Wanderer, der Zeiten und Orte wechselt. Ein böser oder ein guter Geist? Lebendige Gestalt oder Schimäre? Das ist hier ganz ausgezeichnet in der Schwebe zwischen Wirklichkeit und Phantasie gehalten.
Michael G. Fritz erzählt geschmeidig, spannend, mahnt nicht bierernst, sondern bewahrt die humorvolle Gelassenheit eines Betrachters, der engagiert nach Erkenntnis sucht, in die er Leser und Zuhörer mit hineinnimmt. Ein begnadeter Erzähler.
Manchmal ist es ja nur ein scheinbar beiläufiger Satz, der die hohe Kunst des Erzählens unterstreicht. Dieser Roman findet einen Schluss, der alles erstaunlich in Waage bringt.
Da tut sich ein Zeitpanorama auf, wird Europa in all seinen Schrecken des 20. Jahrhunderts erlebbar, rückt Ostpreußen in den Blickpunkt, das kleine Leben dort in der großen Historie. Bevor Krieg und Vertreibung, Flucht und Neuanfang in den Fokus geraten, hat Fritz sehr wortmächtig den Alltag in Worte gebracht. Landschaften, Liebschaften, Gerüchte und Gerüche – sie werden beinahe greifbar.
Es ist tragisch, was Michael G. Fritz da konstruiert hat. Nicht weniger tragisch als das wirkliche Leben. Aber mit viel beklemmender Magie versehen und von Anfang bis Ende voll Poesie.
Leseprobe
Der Vorortzug rollte über die Brücke, die sich weit über den Fluß streckte, und es schien, als hielte er direkt auf den Dom zu, auf die schwarzen gotischen Türme, die in kein Abteilfenster paßten. Dann fuhr der Zug nicht gegen den Dom, bog im letzten Augenblick ab und kam im Bahnhof direkt neben ihm zum Halten. Boris sprang heraus, zog seinen Trolley nach und strebte mit den Passagieren auf die Treppe zu, die mit ihm in den unteren Bereich des Gebäudes strömten. Die Räder seines Koffers gaben ein Quietschen ab, das so laut war, daß es nicht von den Geräuschen der Umgebung geschluckt wurde. Boris hatte sich oft genug vorgenommen, einen neuen zu kaufen, es wieder verschoben, um es zu vergessen – bis zur nächsten Reise.
Der Bahnhof war nicht größer als der Hauptbahnhof in Berlin, Boris kam das Gedränge mindestens genauso stark vor wie daheim. Er blieb an einem Imbißstand hängen, an dem Mettwurst angeboten wurde, die ihn allein des Namens wegen reizte. Überraschenderweise erinnerte sie nicht an die erwartete Teewurst – was hätte Teewurst auch hier zu suchen gehabt, die man gemeinhin auf Brötchen streicht -, sondern an Knacker, für die sie wiederum zu fein war.
Früher hatte es auf seinen Bahnhöfen neben Bouletten meist nur Bockwurst gegeben, vor den Verkaufsständen roch es nach Wurstwasser und fettigem Brodem. Boris hatte einmal seine Zähne gedankenverloren forsch in die Haut einer Bockwurst geschlagen, die wohl einige Zeit im Wasser gelegen haben mußte, und eine Fettfontäne auf eine Frau abgeschossen, die ein paar Meter vor ihm ebenfalls an einem Stehtisch aß. Das Fett traf ihre hellbraune, kostbare Wildlederjacke, die Frau hatte aufgekreischt, sofort ihn, Boris, als den Schuldigen ausgemacht und zu keifen begonnen, dabei unentwegt auf die dunklen Flecken ihrer Jacke, auf Arm und Brust gedeutet, die wahrscheinlich für immer das Leder gezeichnet hatten, und dann auf Boris, den Übeltäter. Es hätte nicht lange gedauert, er war sicher, sie wäre mit drohender Geste auf ihn zugelaufen, so daß er es vorzog, nach einigen verbindlichen Worten schleunigst das Weite zu suchen.
Was heißt hier Schuldjung, was heißt das denn, haben Sie das
gehört, wandte sie sich an die Umstehenden, sagt einfach so Schuldjung und verdünnisiert sich. Wo wollne Se denn hin, wohin denn so schnell? Er vernahm ihre Worte noch auf dem Bahnsteig, glücklicherweise fuhr gerade sein Zug ein, in den er sich rettete.
Die Gepäckaufbewahrung des Kölner Hauptbahnhofs befindet sich vor dem Ausgang zum Dom, im rechten Seitenflügel, in der Mitte des Raums. Man wuchtet sein Gepäck in eine Box, die sich in einem Behälter befindet, der vielleicht an einen Blechschrank erinnert, bezahlt eine Summe, die Boris unverschämt hoch vorkam – er mußte schlucken, aber sein Trolley störte jetzt nur. Man kann zusehen, wie sich die Tür schließt, und vermuten, daß sein Gepäck in einem unterirdischen Raum verschwindet. Boris dachte an ein riesiges, wahrscheinlich unbeleuchtetes Labyrinth, in das sein Koffer einfuhr und abgestellt wurde, wo keine Menschen in grauen Kitteln und mit Schirmmützen ihren Dienst verrichteten, dagegen elektronisch gesteuerte Laufbänder und Fahrstühle oder besser Paternoster die Gepäckstücke transportierten, die wie von selbst in den Regalen ihren Platz fanden. Oder sollten Roboter diese Aufgabe erfüllen?
Unser Alltag wird von elektronischen Programmen bestimmt, es
gibt kaum einen Platz, an dem sie nicht ordnend eingreifen,
Vorgänge für uns entscheiden, in Windeseile - im voraus erbrachte geistige Arbeit. Boris kannte sich aus, es war schließlich sein Metier als Programmierer, genauer als Softwareprogrammierer. Gerade von einer Messe in Deutz gekommen, hatte er fast zwei Stunden Aufenthalt. Es lag nahe, an dem warmen Junitag in die Stadt hineinzuspazieren, vielleicht irgendwo einen Kaffee zu trinken oder ein Frühschoppenbier, Bier, das hier Kölsch heißt, und nicht anders heißen darf. Das kleine Glas war so gut wie nichts und genauso schnell geleert. Vom Straßencafé aus sah Boris den Frauen hinterher, beobachtete ihren Gang. Jede bewegte sich anders, was nicht nur an den Schuhen lag, an Stöckelschuhen oder Ballerinas oder leichten Sommerstiefeln, nicht nur daran, ob sie Jeans, kurze Röcke oder Kleider trugen, ob sie eng oder weit, dunkel, gestreift oder mit Blumenmustern bedruckt waren – wie die Frau sich bewegte, gehörte zu ihrem Wesen. Sie hatten einen südlichen Einschlag, zumindest einen dunklen Teint, und waren auf angenehme Weise füllig.
Boris war längst wieder unterwegs, die Trankstraße und Komödienstraße entlang, über den Wallrafplatz in die Budengasse hinein. Die vorbeischlendernde junge Frau, entschieden jünger als er, hatte ihn aus ihrer Gruppe heraus angelächelt, eine Zigarette im Mundwinkel, die sie mit zwei Fingern hielt, mit Daumen und Mittelfinger, unmittelbar an den Lippen, einfach angelächelt, und er hatte es sich nicht nehmen lassen, zurückzulächeln. Anne hätte ihn sehen sollen, ihn, den Mittfünfziger. Damals gab es das nicht, da sie zusammen waren, ein Ehepaar, Boris war den Frauen gegenüber scheu, er hätte das Lächeln der jungen Frau nicht nur nicht erwidert, er
hätte es nicht einmal bemerkt. Anne hätte ihn jetzt sehen
sollen.
Von oben, oder wie? Also bitte, verbat sich Boris diesen Gedanken. Aber gönnen würde sie es ihm, was denn sonst. Ob sie ihm all die Frauen nach ihr, die er wie im Taumel wechselte, gönnte, oder besser: Ob sie dieses Leben billigte, das er führte?
Anne war nach einem Autounfall, dessen Ablauf nie ganz geklärt werden konnte, ins Koma gefallen. Boris hatte sie jeden Tag im Krankenhaus besucht, sich anfangs aufs Bett gesetzt, später zu ihr hineingelegt, sie im Arm gehalten und ihr Geschichten von ihnen beiden erzählt. Sie waren sich in den Gängen der Universität begegnet, nachdem sie sich Jahre zuvor in seinem Köpenicker Hinterhof zum ersten Mal gesehen hatten, beim Baden. Er hatte sie an ihrer etwas zu breiten Nase wiedererkannt. Anne trug eine schwarzglänzende Jacke, die einem sofort in den Blick geriet, auf die ihre braunen Haare wippten, ihre Locken, die tatsächlich Naturlocken waren. Jahrelang hatte sie diese Jacke getragen, die weiterhin, ein wenig zerschlissen, im Schrank hing. Er versprach, die Jacke
niemals wegzuwerfen. Boris erzählte, daß er in den Leberflecken auf ihren Schlüsselbeinen und darunter Muster gefunden hätte, denen er mit ihren Haarspitzen gefolgt sei, wodurch sie, Anne, in einen Zustand höchster Verzückung geraten sei, nicht nur ihre halbgeschlossenen Augen hätten es ihm bestätigt. Diese Geschichten, in denen sie sich erkennen mußte, waren wie ein Weg, auf dem sie zurückfinden sollte,
zurück ins Leben. Aber Anne erreichten seine Worte gar nicht. Anne starb.