Michael G. Fritz

Der Geruch des Westens


Michael G. Fritz
Der Geruch des Westens
Prosasammlung
126 S., geb. mit SchU
Pendo Verlag, München, Zürich 1999
ISBN 978-3-89812-437-9
Preis: 10,00 €

Cover Der Geruch des Westens

Leseprobe


Nachts, auf dem Fahrrad

Kein Mond, nichts beleuchtet mir den Weg, auf dem es kräftig auf und ab geht - ein Geklapper, das alles wach macht: Aus der Wiese nebenan beginnen Nebel zu steigen, die Triebe des Knöterichs greifen wacker nach mir, als wollten sie mich fangen, die Bäume, knorrige Weiden mit Blattwerk wie Pfeil-spitzen, stellen sich in den Weg, der wohl zugewachsen sein muß, ein Strauch schlägt mir sein nasses Geäst ins Gesicht: Was störst du unsere Ruhe, Alter. Und gleich gibt's den nächsten Hieb: Hast du kein Zuhause? Ich trete, was das Zeug hält, wodurch das Rad jedoch nicht leiser wird, das rollt an schwankenden Zäunen von Laubenpiepern vorbei, über bettwarmen Asphalt schlaftrunkener Straßen, endlich sehe ich die Reklame-wand (maßlos in ihren Dimensionen), hinter der mein Viertel liegt, da springen Pferd und Reiter aus dem Plakat, in schar-fem Galopp streben sie auf mich zu, eine Zigarette im Mund-winkel, schwingt der Mann das Lasso.

Schulzendorfer Blatt

Noch einmal die alten Wege abfahren: also mit dem Rad den Sandweg durch die Wiesen, die niemand mehr mäht, zum Sportplatz am Eichkamp. Der Rechtsaußen mit wehenden Haaren stürmte allen davon, akkurat bis zur Grundlinie, schlug die Flanke, in hohem Bogen flog der Ball jedoch hinter's Tor — immer wieder das gleiche; die Alten vor der Vereinskneipe, Bierflaschen in den Händen, grölten dir was über den Platz zu. Dann holpert das Rad den Weg lang (ach was heißt Weg, der Trampelpfad ist gerade mal zwei Fuß breit), der die Bahngleise begleitet, wo's nach Rost und Brennesseln riecht und nach Jauche von den Rieselfeldern, rechts geht's nach draußen, links nach Berlin: Die Grenze verlief weiter unten auf der Mitte der ewig kaputten Straße wie ein gezogener Strich, die Grenze zwischen Berlin und der DDR, oder man sagte Zone, je nachdem wie man dachte oder wer dabei war. Wollten West-Berliner jemanden hier besuchen – irgendwann nach dem Mauerbau gab's Passierscheine, aber nur für den anderen Teil der Stadt –, mußte auf der Berliner Seite der Straße geparkt und schnell gelaufen werden, schnell und auch unauffällig, wenn das überhaupt geht, auf die andere Seite. Der ABV kam kontrollieren, darin war man eigen. (Was der wohl heute macht, frage ich mich.) Der ausgewaschene Weg durch die Kiefernschonung, die längst zum Wald geworden ist, setzt sich jenseits der Straße im nächsten Wald fort, streift brachlie-gende Felder, vereinzelte Höfe, verliert sich auf einem Plat-tenweg. Die Ausbuchtung im Hügel erkennt man kaum noch als Schießplatz. Manchmal samstags trieb es dich her, Patronenhül-sen zu sammeln und aus den Eisenbahnschwellen Projektile zu polken. Das Blei wurde im Kachelofen geschmolzen, in Streich-holzschachteln zu Barren gegossen, die eigentlich zu nichts nutze waren. Die Chaussee in der Nähe zieht nach Rotberg und Kiekebusch (wenn der Name fiel, wechselten die Mädchen bedeu-tungsvoll Blicke und kicherten). Auf den umliegenden Feldern hast du Kartoffeln gesammelt in den Ferien, die auch danach hießen, du bist auf dem Heimweg im Dorfkrug eingekehrt, um für ein, zwei Glas Faßbrause von den eben verdienten Groschen einige auf die Theke zu legen. Kiekebusch und Rotberg — die Orte, soviel steht fest, gibt's bald nicht mehr, nicht mal die Namen, weil sich der Flughafen lang macht, der sich wie zum Hohn schönes Feld nennt, und die Flecken begräbt unter seinem Stein. Die Leute sollen sich freuen, hört man, sie bekommen eine Menge Geld. Doch hier weiß keiner, wie's wird und vor allem wie laut. Der alte Mann auf der Wiese hebt die Krücke und droht den Flugzeugen, von wo aus ihn aber keiner sieht.

IM FLIEDERBUSCH bauen die Kinder eine Bude, sie schleppen Bretter und Stangen, tragen Decken und Laken, Teppiche und Kissen aus dem Haus. Eine Pude bauen, eine Pude bauen, ruft fröhlich mein Sohn, als er an mir vorüberrennt. Oh ja, ganz und gar ein Kind aus dem sanften Tal der Elbe, formt er selbstverständlich aus dem B das P und umgekehrt, nur an den falschen Stellen. Doch was heißt falsch? Da kann er bloß den Kopf schütteln über seinen Vater, der`s partout immer besser wissen will als alle anderen, womit der aber hier allein steht, mutterseelenallein. Wer versagt sich auch so ohne weiteres sein Nu und seine volle Bulle et cetera pp.

Bald sind die Bretter, die Stangen gesägt und genagelt, ist die Bude eingerichtet: gemütlich diese Welt en minia­ture, dem hiesigen Landstrich nicht unähnlich: Man guckt schon mal nach draußen und wundert sich, was es so alles gibt; indes am schönsten hat man`s halt zu Hause: klein, aber mein, wie es seit eh und je gewesen ist. Abends zwitschern die Kinder gleich den Vögeln im Geäst ringsum, sie haben die Fenster längst zugezogen und lassen sich`s gutgehen. Über den Blättern flattert eine Fahne, doch im Dunkeln erkennt man ihre Farben nicht mehr.

Rezensionen


In einer Zeit, in der jede zweite Woche der Roman des Jahrhunderts, mindestens jedoch des Jahrzehnts, gefordert, gefördert und gefunden wird – aber nur, weil das Wort "Jahrhundert" zum Synonym für "Saison" verkommen ist -, muss eine Prosa, die den alles zu beherrschen scheinenden medialen Tempoterror unterbricht, indem sie die poetische Miniatur, den Text der zeitanhaltenden Sekunde, kreiert und verteidigt, anachronistisch wirken. Wirklich anachronistisch ist jedoch die Jagd nach dem schnell fertigen Kunstwerk, das dafür sorgt, dass man mit der Kunst immer schneller fertig ist, um am Ende nur noch in Bei-Spielen künstlicher Schnelligkeit ein pseudoästhetisches Produkt allerschnellster, das heißt: profitabelster Kunstfertigkeit vor sich zu haben. Ob der vorhandene Widerstand dagegen ausreicht, ist nicht die Frage; dass er notwendig ist, das muss ins Bewusstsein. Zu den deutschen Autoren, die in diesem Sinne davon wissen, gehört der aus Berlin stammende und in Dresden lebende Erzähler Michael G. Fritz.

Deutschland-Archiv


Auch zehn Jahre nach dem Mauerfall prägt die "geteilte" Vergangenheit das Bewußtsein vieler Menschen. Michael G. Fritz versteht es meisterhaft, gesellschaftliche Zustände und die Befindlichkeit der Menschen einzufangen. Fritz ist ein guter Beobachter; er kennt den Osten… Der Leser ist von der Sprache nachhaltig berührt. Es ist ein Genuß, dieses Bändchen zu lesen.

Berliner Lesezeichen


Es gehört zu den Vorzügen dieses Buches, dass eine ganze Reihe von Texten nichts oder nur ganz wenig mit dem deutsch-deutschen Thema zu tun hat: So wird inhaltliche Monotonie vermiden. Der Autor erprobt die Möglichkeiten konzentrierter Kurzprosa an Stoffen und Figuren des Alltags… Zum Geruch des Westens wie des Ostens gehört die Sprache und damit die Kunst-Gestalt dieser Kurzprosa. Sie überzeugt durch Dichte, Genauigkeit von Rede und Bildlichkeit, Originalität der Einfälle und Vielfalt. Einwe große Stärke von Michael G. Fritz ist seine ebenso feine wie kräftige, filigrane wie zupackende Fähigkeit zur Beschreibung menschlich-gesellschaftlichen wie menschlich-naturhaften Wesens und ihrer Verschränkungen, die auf einer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe beruhen. Alles in allem: ein bemerkenswertes Buch, dem viele wache und sensible Leser zu wünschen sind.

Sächsische Zeitung